Oil

Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters

4. 9. 2021
— 9. 1. 2022

Erdöl – Kein anderer Stoff wird die Gesellschaften im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert so geprägt haben wie das Erdöl. Flugzeuge, Panzer und Weltraumraketen, Autobahnen, Shopping Malls und Vorortsiedlungen, Nylonstrümpfe, Plastikberge und Vinyl – zentrale Materialien und Technologien, Lebensweisen und Visionen unserer Zeit verdanken sich der Energiedichte und Wandelbarkeit von Erdöl. Jetzt zeichnet sich jedoch die Dämmerung des „Ölzeitalters“ ab, auch wenn dessen Ende weder genau datiert noch in seinen Auswirkungen abgeschätzt werden kann.

Die Ausstellung Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters am Kunstmuseum Wolfsburg wirft einen spekulativen, poetischen Blick auf die seit rund 100 Jahren andauernde Gegenwart der Erdölmoderne, als ob diese schon Vergangenheit wäre.

Ana AlensoMonira Al QadiriFrancis AlÿsYuri AncaraniQiu AnxiongAtelier van LieshoutKader AttiaSerge Attukwei ClotteyKlaus AudererJennifer-Jane BaylissAlessandro Balteo-YazbeckWes Bell
Claus BergenBernardo BertolucciUrsula BiemannVanessa BillyBrett BloomMark BoulosMargaret Bourke-WhiteBureau d’EtudesEdward BurtynskyWarren CariouJeanne & Claude ChristoTony Cragg
Walter De MariaMark DionGerardo DottoriSokari Douglas CampRena EffendiWilliam EgglestonSylvie FleuryJohn GerrardChristoph GirardetClaus GoedickeTue GreenfortCarl Grossberg
Monika GrzymalaHans HaackeEberhard HavekostRomuald HazoumèJohn HeartfieldMichael HirschbichlerBernhard HopfengärtnerAaditi JoshiMatt KenyonTetsumi KudoErnst LogarMark Lombardi
Ellen Karin MæhlumWolfgang MattheuerPaul MichaelisKay Michalak & Sven VölkerRichard MisrachMichael NajjarGeorge OsodiAlex PragerAlain ResnaisMiguel RothschildMartha RoslerEd Ruscha
Shirin SabahiSantiago SierraTaryn SimonAndreas SlominskiRobert SmithsonGerda Steiner & Jörg LenzlingerThomas StruthWolfgang TillmansGunhild VatnWolf VostellEntang WiharsoErwin Wurm

Eine Bestandsaufnahme tut not – und die Schau wählt dafür einen Blickpunkt in weiter Ferne: Wie würde die Epoche aus einer fernen Zukunft aussehen? Was würde eine Archäologie unserer Gegenwart liefern? Aus der fiktiven Distanz möglicher Zukünfte fragt die Ausstellung und ihre Macher, was typisch war an dieser Zeit, was großartig und schön, was hässlich und furchtbar, und wie sich all das in Kunst und Kultur widerspiegelt.

Auf drei Arten ist Erdöl explizit in der Kunst präsent. Erdöl ist unmittelbares Material der Kunst, als Bitumen, Rohöl oder Plastik. Zum Zweiten liefert Öl den Gegenstand der Kunst, es prägt unsere Lebenswelten und Gesellschaften: Städte, Straßen, Autos, Fliegen, Krieg, Arbeitswelten des Öls, ebenso wie Infrastrukturen und ökologische und politische Verheerungen. Und zum Dritten gibt es Kunst durch das Erdöl: künstlerische Produktionen oder Sammlungen, die von Akteuren in der Erdölindustrie im weiteren und engeren Sinn beauftragt oder unterstützt wurden.

Die Kunst der Moderne hat sich auf vielfältige Weise mit der fossilen Grund­lage der Epoche auseinandergesetzt: Schon die Futuristen feiern den Motor als Grundlage eine neuen Ästhetik, Malewitschs Schwarzes Quadrat (1915) wurde erstmals für eine Oper 1915 zum Sieg der Kohle über die Sonne gemalt. Und Picassos Guernica (1937) stellt den Schrecken des Luftkriegs aus. Eine Kunst, die sich nicht direkt oder indirekt mit einer vom Erdöl geprägten Lebenswelt befasst, hat es im 20. Jahrhundert kaum gegeben.

Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, 1923
Pablo Picasso, Guernica, 1937

Was ist die Petromoderne?

Die Moderne ist eine im historischen Verlauf beispiellose Epoche. Fast alle Sphären des Lebens – ob Alltag, Technik, Wissenschaft, Politik oder Kunst – unterscheiden sich grundlegend von vorherigen Zeitaltern. Entscheidend daran beteiligt sind fossile Energieträger: Zunächst baute man Kohle ab, später förderte man Erdöl und Erdgas.

Richard Misrach, Norco Cumulus, 1998

Nur der Zustrom von Energie und Materie aus der tiefsten Erdschicht (und Erdgeschichte!) hat die Höhenflüge der Moderne ermöglicht. Um zu verdeutlichen, dass die gegenwärtige Epoche auf fossiler Energie gebaut ist, spricht man in der Kulturtheorie der Gegenwart von der "Petromoderne".

Aus zahllosen Sphären der typisch modernen Erfahrungswelt ist Erdöl nicht wegzudenken – es prägt unsere Städte, es liefert uns Waren aus den hintersten Winkeln der Welt, es hebt uns in den Himmel, verlängert pharmazeutisch unser Leben und lässt uns durch die Landschaft brausen. Und in Form von Kunstdünger und industriell erzeugten Lebensmitteln essen wir sogar Öl.

Gleichzeitig hingen und hängen aber auch die größten Probleme der Moderne am Öl: Weltkriege, Ungerechtigkeit, dazu Klimawandel, Plastikstrudel und eine weltweit veränderte Biosphäre. Eine Abkehr von der schwarzen Droge Öl erscheint unausweichlich.

Was ist Erdöl und wie wird es genutzt?

Erdöl ist ein flüssiges Gemisch aus abertausenden unterschiedlichen Molekülen, aus Kohlenwasserstoffen und aus deren Verbindungen mit weiteren, chemischen Elementen, etwa mit Sauerstoff, Stickstoff oder Schwefel. Dies bedeutet eine enorm hohe Energiedichte: In einem Kilo Benzin ist rund zehnmal so viel Energie enthalten wie in der gleichen Menge Dynamit. Die Grundsubstanz für Erdöl bildet fossile Biomasse, etwa aus Algen. In ihnen ist fossile Sonnenenergie gespeichert. Was heute als Erdöl gefördert werden kann, ist das Ergebnis eines kaum vorstellbar langsamen, biogeochemischen Prozesses enormer Verdichtung und Selektion.

Unter sehr speziellen, geografischen und chemischen Bedingungen, etwa in flachen Küstengewässern, wurde ein winziger Teil der etwa vor 100 Millionen Jahren entstandenen Biomasse dem natürlichen Kreislauf der Zersetzung entzogen. In Jahrmillionen wurde diese Materie zu Öl und Gas umgewandelt. Wiederum in Jahrmillionen sammelte sich ein winziger Anteil dieser Stoffe in nach oben hin abgeschlossenen, heute nutzbaren Lagerstätten.

100000000000 t
Vermutete Biomasse insgesamt (Erdöl und Erdgas)
10000 t
kommen jährlich an Öl und Gas hinzu
4670000000 t
jährlich gefördertes Erdöl
1500000000 t
jährlich gefördertes Erdgas

Die weltweit größten Ölproduzenten

 
 
 
(Quelle: EIA)

Die gängige, amerikanisch geprägte Geschichtsschreibung des Ölzeitalters lässt es im Jahr 1859 mit der ersten erfolgreichen kommerziellen Bohrung in Titusville, Pennsylvania, beginnen.

An manchen Orten, wie in Mesopotamien im heutigen Irak, aber auch in Baku, wo um 1900 die Hälfte der gesamten Weltproduktion an Öl gefördert wurde, wird Erdöl und Bitumen seit Jahrtausenden genutzt. Natürliche Gasfeuer bei Baku sind alte Heiligtümer und die Ziegel der Prozessionsstraße in Babylon waren mit natürlichem Asphalt verfugt.

Tatsächlich gibt es Erdöl aber in allen Teilen der Erde, auch in Mitteleuropa. In Niedersachsen, in Oberbayern und im Elsass werden kleine, natürliche Ölquellen seit Jahrhunderten genutzt, etwa zu Heilzwecken.

Zum industriellen Rohstoff wird Erdöl im 19. Jahrhundert: zunächst als Lampenöl oder Schmiermittel, um 1900 als Kraftstoff für Motoren.

Werbegrafik Let’s Keep Our Dreams Big der Standard Oil Company of California, aus: The Petroleum Engineer. Drilling & Production, 31, 1959, General Section, August, The Petroleum Engineer for Management

Upstream – Midstream – Downstream

Petroleum bildete die Grundlage des sprichwörtlichen Reichtums John D. Rockefellers, des ersten Öl-Tycoons der Geschichte.

Der Energiegehalt des flüssigen Erdöls ist wegen des an Kohlenstoff gekoppelten Wasserstoffs sehr viel höher als der der festen Kohle. Mit vergleichsweise kleinen und leichten Motoren werden neue Arten der Mobilität wie Automobile und Flugzeuge, aber auch Stromgeneratoren in entlegenen Gegenden möglich.

Monira Al Qadiri, OR-BIT 1, 2016

Eine Vielzahl an Wissenschaften und Techniken müssen zusammenspielen, damit Erdöl gefördert und genutzt werden kann: Geologie, Geophysik, Paläontologie, Bohrtechnik, Metallurgie, Messtechnik, Pipelinetechnik, Logistik, Chemie, Raffineriewesen, Verfahrenstechnik – um nur einige zu benennen.

Die Erdölindustrie unterscheidet die beteiligen Wissenschaften und Techniken in einzelne Bereiche:Upstream umfasst das Erschließen, Anbohren und Fördern von Öl.Midstream bezeichnet das Verteilen etwa in Pipelines oder Tankschiffen. Unter Downstream versteht man das Verarbeiten des Rohstoffs in Raffinerien und den Vertrieb.

Upstream: Durchbohrte Erde

Den grundlegenden Akt der Mobilisierung bildet das Erschließen fossiler Energie. Was über Jahrmillionen im der Erde geschlummert hat, wird angebohrt und Teil technischer Kreisläufe.

Earth Overshoot Day

Erdüberlastungstag, der anzeigt, an welchem Tag eines jeweils laufenden Jahres der globale Verbrauch von nachwachsenden Rohstoffen die der Reproduktion dieser Ressourcen übersteigt:

29. Dezember
1972
22. August
2021

Wir verbrauchen somit jährlich die Rohstoffe von 1,6 Erden.

In der Frühzeit der Petromoderne mussten vergleichsweise oberflächennahe Lagerstätten nur angestochen werden, und das Öl schoss in sogenannten Gushern heraus. Was heute als ökologische Katastrophe erscheint, ist gleichzeitig eines der Symbolbilder schlechthin für plötzlichen Reichtum. Diese Zeiten des "easy oil" sind aber lange vorbei.

Längst sind Hightech-Verfahren der Vibrationsseismik, einer geophysikalischen Vermessung der Gesteinsschichten, notwendig, um aus den Daten ein Bild möglicher Lagerstätten im Untergrund zu erlangen. Bis in mehrere Kilometer Tiefe kann senkrecht, aber auch horizontal gebohrt werden. Selbst Raumfahrt ist technisch weniger anspruchsvoll als das Erschließen des Untergrunds mit seinem Druck und den hohen Temperaturen.

So brutal dieses Eingreifen in die Natur ist, so wichtige geohistorische Erkenntnisse werden daraus gewonnen. Erdölkonzerne sind auch Zentren paläontologischen Wissens. So wurde zwischen Wolfsburg und Braunschweig 2016 ein sehr gut erhaltener 180 Millionen Jahre alter Ichthyosaurier ausgegraben, der weitere Erkenntnisse über die Jurazeit in dieser Gegend gebracht hat: Wurde lange Zeit vermutet, dass er zu dem Zeitpunkt bereits ausgestorben war, muss diese Theorie durch den Fund nun überdacht werden.

Midstream: Die Pipeline

Das Pipelinesystem ist eines der wichtigsten Verkehrssysteme der Erde. Rohrleitungen liegen an jeder Bohrstelle, Fernleitungen überspringen Meere und Alpen und verbinden ganze Kontinente.

Einerseits sind Pipelines in der Landschaft fast unsichtbar. Aber an ihrem Bau werden oft weitreichende, geostrategische und politische Zusammenhänge sichtbar. Ganze Künstlerbrigaden wurden etwa aus der DDR in die Sowjetunion geschickt, um den Fortschritt der großen Öl- und Gas-Pipelines zu dokumentieren. Heute bilden Pipelineprojekte ob in den USA oder im Kaukasus den Kristallisationspunkt für lokalen Protest gegen ökologische und politische Risiken, wie auch der künstlerischen Reflexion.

Ursula Biermann, Black Sea Files (Videostills), 2005

Downstream: Die Raffinerie

Die Weiterverarbeitung von Erdöl gilt als Great Acceleration, als Beschleunigung gesellschaftlicher und technologischer Entwicklungen seit den 1950er-Jahren. Daher ist ein Schlüsselort der Petromoderne die Raffinerie.

Mit dem Fördern und Verteilen von Rohöl ist es nicht getan. Was als Kraftstoff oder Kunststoff unserer Alltag prägt, ist nicht der Rohstoff Öl, sondern das Ergebis seiner chemischen Umwandlung. Einer der Schlüsselorte der Petromoderne ist daher die Raffinerie. In ihren kilometerlangen Röhrensystemen und in ihren chemischen Reaktoren wird aus einen Naturstoff ein Treibstoff des modernen Lebens. Hier werden Molekülewie in einem Baukasten aufgebrochen und neu zusammengesetzt: Kraftstoffe für alle Arten der Fortbewegung, Plastik, Schaumstoff, Textilien, Medikamente, Kaugummi, Kosmetikartikel wie Duschgel und Lippenstifte, Waschmittel, Dünger, Büro- oder Haushaltsprodukte, Farben, Klebstoff, Kerzen und so weiter. Das Erdöl hat zahllose Produkte hervorgebracht, die unser Leben so vermeintlich einfach und unkompliziert machen und das globale Leben auf massive Weise durchdringen.

Atelier Van Lieshout, Naphta Cracker, 2012

Am Beginn der Petrochemie um 1900 wurden die chemischen Moleküle durch Destillation sortiert. Ab den 1920er-Jahren wurden sie auch in ihrer inneren Struktur verändert: unter hohem Druck "gecrackt", das heißt aufgebrochen, "reformiert", das heißt neu zusammengesetzt, "aromatisiert", das heißt zu ringförmigen Strukturen, "polymerisiert", das heißt zu langen Ketten umgewandelt. Der Naphta Cracker des Atelier van Lieshout stellt vereinfacht eine Produktionseinheit dar, die den komplexen Prozess der Kunststoffherstellung im Garagen-Punk-Format nachstellt.

Es verweist gleichzeitig auch auf den Wert dieses speziellen Materials, da Kunststoffe auf komplizierte Weise und aus knappen Rohstoffen hergestellt werden. Das Kunstwerk im neoindustriellen Stil spielt mit einem Realitätseffekt und verweigert eine Einordnung in eine Epoche: postapokalyptisch, sowjetisch oder aus einer früheren Vergangenheit?

Monika Grzymala, Raumzeichnung (Bass), 2021

Die Architektur der Ausstellung

Autos und Flugzeuge, weltweit verschaltete, immer schneller getaktete Produktionszyklen, vielfältige Formen der Beschleunigung gehören zu den Grunderfahrungen der Petromoderne. Eine zentrale Achse der Mobilisierung bildet daher das Kernstück der Ausstellung Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters. Wie eine Startbahn verbindet sie das Molekulare und das Planetare, die Energie aus der Tiefe und den Flug zu den Sternen. Kunstdünger gehören an zentraler Stelle zur Petromoderne. Die Chemie der Düngemittel ist ab 1910 ein entscheidender Meilenstein auf dem Weg zur Petrochemie und zur molekularen Mobilisierung des Planeten.

Schon das Manifest der Futuristen feiert die technische Revolution des Verbrennungsmotors auch als ästhetische Revolution und als Umwertung der klassischen Begriffe von Schönheit.

Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen […] ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.
Manifest der Futuristen

Motorenbetriebene Fahrzeuge zu Land, zu Wasser und in der Luft sind ab Beginn des 20. Jahrhunderts Symbole der Petromoderne. Fossile Energie mobilisiert und beschleunigt alle Lebensbereiche. Die Perspektive aus dem Flugzeug ist Gegenstand weiterer Manifeste der Avantgarde und wenige Jahrzehnte später auch für die breiten Massen zugänglich.

Erdöl steht für beispiellosen Wohlstand und gleichzeitig für die Schrecken des Krieges und der Vernichtung. Es ist zugleich toxisch und Grundlage der modernen Pharmazie und Kunstdüngerindustrie. Seine Nutzung erzeugt Wegwerfartikel und Wissen über die Frühgeschichte des Lebens auf der Erde. Es stützt Diktaturen, aber auch beispiellos vielfältige Subkulturen. Es ist Mittel der Ermächtigung und Emanzipation ebenso wie der Unterdrückung und Ungerechtigkeit.
Erdöl steht für Schönheit und Schrecken zugleich.

Diese Widersprüche nicht einzuebnen, sondern als Kennzeichen der Epoche zu interpretieren, geschieht im Kunstmuseum Wolfsburg im Kabinett der Ambivalenzen. Am Eingang der Ausstellung sind dichte Schaustücke aus Kunst und Kulturgeschichte versammelt, aus Zeitgeschichte und Naturgeschichte, in denen sich exemplarische Ambivalenzen überlagern.

Mit Bitumen beschichteten Metallplatten begann im 19. Jahrhundert die Geschichte der Fotografie. Bitumen ist eine natürlich vorkommende Masse und tropft aus Böschungen in Kanada, es kann aber auch aus Erdöl gewonnen werden. Mit diesem Material erschafft der kanadische Literaturwissenschaftler und Künstler Warren Carriou sogenannte Petrografien, die wiederum die Zerstörung der kanadischen Wildnis dokumentieren.
Warren Cariou, Decommissioned Bucketwheel Excavator, 2014
In unmittelbarer Nähe von Wolfsburg liegen große Lagerstätten von Kerogen. Durch einen Schwelprozess könnte man daraus Öl erzeugen. Im Zweiten Weltkrieg mussten KZ-Häftlinge im Außenlager Schandelah Ölschiefer verschwelen. Aus genau denselben Gesteinsformationen gewinnt das Naturhistorische Museum Braunschweig heute fossile Schätze und entziffert Naturgeschichte.

Krieg um Öl – Öl als Waffe

Ich lese heute überall in der Zeitung, dass ein großer Benzinmangel herrscht. Kein Wunder. Die Deutschen tanken ihre Flugzeuge auf, beladen sie mit Bomben, fliegen nach England, werfen die Bomben ab, fliegen zurück. Wie viel Benzin wird verbraucht? Was machen die Engländer? Sie tanken auch ihre Flugzeuge auf, beladen sie mit Bomben, fliegen nach Deutschland, werfen sie ab, fliegen zurück, brauchen auch viel Benzin. Wäre es da nicht viel einfacher, die deutschen Flugzeuge würden nur über Deutschland aufsteigen und dort ihre Bomben abwerfen und die englischen Flugzeuge nur über England und dort ihre Bomben abwerfen. Der Erfolg wäre doch derselbe. Aber wie viel Benzin hätte man gespart?
Karl Valentin, 1944

Erdöl war (und ist) in der Petromoderne Kriegsziel und Mittel zum Krieg. Und Kriege waren wichtige Antreiber für industrielle und wissenschaftliche Innovationen, für neue Verkehrsmittel, für die chemische Industrie. In Panzern, Kriegsschiffen und Flugzeugen war und ist Erdöl die Grundlage der wichtigsten modernen Waffensysteme.

Claus Bergen, Gegen England, 1940

Und vom Ersten Weltkrieg über den Zweiten Weltkrieg bis hinein in die Golfkriege der 1990er- und 2000er-Jahre waren Ölquellen – ob im ukrainischen Galizien, in Baku, Indonesien oder im Irak – strategische Ziele. Buchstäblich als Mordinstrument dient Öl in Form von Flammenwerfern oder Napalm, aber auch in den Flugzeugen, die am 11. September 2001 ins World Trade Center in New York gesteuert wurden.

Als Maximalpunkt petromodernen Schreckens wurden während der Shoa, der Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus, über zwei Millionen Menschen in den Vernichtungslagern der Nazis, in Sobibor, Belzec und Treblinka, aber auch in fahrenden Gaskammern mit Motorenabgasen getötet.

Wolf Vostell, B 52 Lippenstiftbomber, 1968

Raumfahrt

Buchstäblicher Höhepunkt petromoderner Mobilisierung und logischer Abschluss der Achse der Mobilisierung bildet die Raumfahrt. Sie ist der Fluchtpunkt aller anderen Formen der Beschleunigung des Fahrens und Fliegens.

Ölgeld

Kunst ist immer auch Teil der Ökonomie. Um Kunst zu machen, müssen Überschüsse zunächst erwirtschaftet werden. In der Petromoderne ist Ölgeld eine zentrale Grundlage künstlerischer Produktion. Und diese nicht selten problematische und korrumpierende Verstrickung ist selbst Thema der Kunst: Dass fast alle Biennalen, Ausstellungen, Stipendien direkt oder indirekt petromodern finanziert waren, ist in einer Retrospektive auf die Kunst der Petromoderne immer mitzudenken.

Ana Alenso, 1.000.000%, 2018

Spuren in uns

Die Förderung und Verwendung von Öl hinterlässt Spuren, in Ökosystemen und Gesellschaften, aber auch in einzelnen Körpern und Seelen. Als Begegnung mit einer fremden Macht, als Oil Encounter wurde das Aufeinandertreffen lokaler Kulturen mit den Möglichkeiten und Zumutungen der globalen Petromoderne beschrieben.

Tatsächlich ist der Einbruch westlicher, petromoderner Techniken und Prozesse in Kulturen, die zuvor energetisch, materiell und ökonomisch ganz anders fundiert waren, eine Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts, und zwar in allen Teilen der Erde, von den entferntesten Inseln bis zum Herzstück der amerikanischen Ölmoderne. Keine Gesellschaft, kein Subjekt konnte sich diesem Zugriff entziehen. Und gerade die Kunst hat die geografisch, historisch, kulturell und individuell sehr unterschiedlichen Spielarten dieses Einbruchs aufgezeigt.

John Gerrard, Western Flag (Spindletop, Texas), 2017
Auch das Keyvisual Western Flag von John Gerrard, das die Außenkommunikation für die Ausstellung prägt, berichtet vom Encounter, von den einst legendären Gegenden bei Spindletop, aus denen die Maschinerie der Erdölindustrie längst weitergezogen ist.
Seit diese Stoffe praktisch in jedermanns Hand gelangt sind[,] führen wir ein Leben, als ob Prometheus das Feuer ein zweites Mal gestohlen hätte. Was das bedeutet, wird klar, wenn wir zugeben, dass die zweiten Feuer längst nicht nur unsere Motoren treiben, sondern auch in unseren existenziellen Motiven, in unseren vitalen Begriffen von Freiheit brennen. Wir können uns keine Freiheit mehr vorstellen, die nicht immer auch Freiheit zu riskanten Beschleunigungen einschließt, Freiheit zur Fortbewegung an fernste Ziele, Freiheit zur Übertreibung und zur Verschwendung, ja schließlich auch Freiheit zur Explosion und zur Selbstzerstörung.
Peter Sloterdijk, 2011

Die Erkenntnis, dass zentrale metaphysische Güter der Moderne – wie der umfassende Freiheitsbegriff – von einem endlichen, und tatsächlich sogar höchst problematischen Stoff abhängt, und dass diese Epoche der petromodernen Potenz nicht ewig währen wird, wird mittlerweile unter dem Begriff der Petromelancholie diskutiert.

Petromelancholie: Am Ausmaß unserer Liebe zum Öl im 20. Jahrhundert bemisst sich der Zustand der Trauer angesichts schwindender konventioneller Ölreserven.
Stefanie LeMenager, 2014

Plastikzeit / Naturgeschichte

Die Petromoderne basiert auf fossilen, evolutionär weit von uns entfernten Energiespeichern. Und sie hinterlässt neue, auf ebenso lange Sicht wirksame Materialien. Eines der wichtigsten und problematischsten Materialien ist Plastik. Kein Supermarkt, kein Operationssaal ist ohne Plastik denkbar.Mikroplastik findet sich nicht nur an allen Stränden und in den Ozeanen dieser Welt – es wurde durch Konsum bestimmter Lebensmittel und anderer Produkte Teil der Körper von Menschen und Tieren.

Tony Cragg, Menschenmenge, 1984

Das utopische Potential einer neuen, alchimistischen Wundersubstanz, aus der sich alles zu geringsten Kosten herstellen lässt, hat sich in einen Alptraum verwandelt. In Plastikwelten entwickelten sich neue Bakterien in einer beschleunigten Form der Evolution.

Die ganze Welt kann plastifiziert werden, auch das Leben selbst.
Roland Barthes, 1957

Was Tetsumi Kudos Mikrokosmos inszeniert hatte, eine aus Plastik geformte, künstliche zweite Welt unter Plexiglas, blickt mit dem Abstand eines halben Jahrhunderts verändert zurück. Das Treibhaus ist real. Der Planet selbst ist in den Laborzustand gerückt, aber ohne, dass sich aus der Ferne eine Beobachterperspektive auf die künstlichen Wesen einnehmen ließe.

Tetsumi Kudo, Untitled, 1971

Epilog: Die Ölfliege

Das Plündern der energetischen Vorräte aus der Frühzeit der Evolution hat evolutionäre Folgen. In der Petromoderne kann Kultur und Technik nicht mehr getrennt von den Zeitläuften der Erdgeschichte betrachtet werden. In einem Jahrhundert hat eine Substanz, die zuvor kaum größere Verbreitung hatte, alle Sphären des menschlichen Lebens durchdrungen. Wir leben von und im Öl, und es fällt uns schwer, wieder davon loszukommen.

Nur eine einzige Lebensform hat sich tatsächlich an ein Leben im Öl angepasst: die in natürlichen Ölsümpfen in Kalifornien, auf Cuba und Trinidad und Tobago lebende Ölfliege. Diasemocera petrolei (Coquillett, 1899). Ihre Larven schlüpfen im Öl und die erwachsenen Tiere können sich auf der klebrigen Oberfläche des Öls fortbewegen.

Als kleines, und direkt aus Kalifornien eingeflogenes, weit gereistes Schaustück bildet die Ölfliege den evolutionären Aus­blick aus der Ausstellung. Was haben wir gesehen, im schwarzen Spiegel des Öls?

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