In aller Munde
Von Pieter Bruegel bis Cindy Sherman
— 6. 6. 2021
Der Mund und seine Höhle sind eine buchstäblich reizvolle Körperzone, sie ist ein Alleskönner: Lippen, Zunge und Zähne, Beißen und Reißen, Essen, Schmecken und Lecken, Singen, Pfeifen und Sprechen, Schreien, Speien und Spucken, Atmen, Hauchen und Rauchen, Lachen und Weinen, Tasten und Fühlen sowie Küssen, Lust und Leidenschaft. Im eigentlichen wie im metaphorischen Sinne öffnen sich in der Bildgeschichte von Kunst und Kultur von Anbeginn bis heute allerlei Münder und Mäuler. Diesen thematischen Reichtum des Oralen systematisch nachzuzeichnen, bedeutet sich auf eine Art Selbsterkundungstour durch das Inventar und das komplexe Funktionspektrum der körpereigenen Mundhöhle zu begeben!
Expedition in den Weltinnenraum
Der metaphorische Weltinnenraum ist in der christlichen Ikonografie der Ort der Verdammnis, denn in der mittelalterlichen Vorstellung ist es die Hölle, die lodernd im Erdinneren wartet. Die Verdammten fallen in das Flammenmeer des Höllenschlundes, schwimmen, straucheln und schreien in ewigem Schmerz. Die alttestamentarischen Beschreibungen eines höllischen Rachens durch Jesaja (Jes 5,14) und Hiob (Hiob 41-13) der dem flammenspeienden Leviathan eine Gestalt zu geben versucht, sowie die neutestamentarische Johannesoffenbarung (Off 20,10) mögen die bildgewaltigen Darstellungen des Höllenschlundes „befeuert“ haben.
Durch alle Wesen reicht der Raum: Weltinnenraum.Rainer Maria Rilke
Rund um den Mund
Nähert man sich dem Mund von der anatomischen Seite, sind seine Lippen das erste sichtbare Element. Sie definieren die Form des Mundes, sind hochsensorisch und sinnlich. Gerade die weiblichen, meist roten Lippen verfügen über eine erotische Signalwirkung. Für Man Ray sind es die Lippen von Lee Miller (1932/34).
Dein Mund allein wird zu zwei Körpern, die durch einen langen, wogenden Horizont getrennt sind. Wie die Erde und der Himmel, wie Du und ich.Man Ray, „A l’heure de l'observatoire… Les amoureux“, Cahiers d’art 10, Nr. 5-6 (1935): 127.
Zähne zeigen
Wenn sich der Mund öffnet, zeigen sich die Zähne. In der Mitte des 20. Jahrhunderts verlassen sie den Mund und gewinnen als Gebiss oder Prothese an künstlerischem Eigenwert, zunächst vor allem als Objet trouvé.
Die Zahnprothese ist eine sehr vertraute und identifizierbare Form. Sie ist ein Motiv, dem jeder von uns täglich begegnet; unsere damit verbundenen Assoziationen und Mythen sind vielfältig und ausgeprägt.Mithu Sen
Zahnschmerz & -kommerz
Ohne Zähne kommen wir auf die Welt, schmerzhaft ist die erste Zahnung und dies nur, um die Milchzähne gleich wieder zu verlieren. Es folgt der lebenslange Kampf um den Zahnerhalt. Die Gründe für das Zahnleiden sind bis heute dieselben: fehlende Pflege, falsche Ernährung und vor allem zu hoher Zuckerkonsum.
Zahn & Zierde
Zähne hatten in verschiedensten Kulturen schon immer einen dekorativen, ökonomischen und religiösen Wert. Im Kunsthistorischen Museum in Wien wird ein Reliquiar (3. Viertel, 14. Jahrhundert) aufbewahrt, das einen Zahn Johannes des Täufers enthalten soll, während in Kandy auf SriLanka eine ganze Tempelanlage gebaut wurde, in dessen Zentrum ein Zahn von Buddha Siddharta Gautama aufbewahrt wird.
Es hat zwar schon früh Zahnveredelungen gegeben, aber Goldzähne bis hin zum sogenannten „Grill“, einem spangenartigen Zahnschmuck aus Silber, Gold oder Platin als Statussymbol in der Hip-Hop-Kultur, sind vor allem Teil unserer Gegenwartskultur.
Auf der Zunge
Hinter den Zähnen liegt die Zunge, die fast den gesamten Mundraum ausfüllt, die tastet und schmeckt, feinfühlig ist und aus der Mundhöhle herausgestreckt werden kann. Mit diesen Fähigkeiten hat sie Bildgeschichte geschrieben.
Benjamin Houlihan leckt unmittelbar vor Ort mit der eigenen Zunge und einer Art Tempera aus Quark und Pigment eine abstrakte Komposition auf die Wand, die nahezu impressionistisches Wirrwarr aus roten Leckspuren bildet.
Lecken & Schmecken
Die Zunge ist extrem beweglich, was dazu geführt hat, dass sie im Laufe der Bildgeschichte immer unternehmungslustiger geworden ist. Ihr Tastgefühl und ihr Geschmackssinn spielen hierbei eine zentrale Rolle, beides findet im Lecken zusammen.
Schlund & Schlingen
Essen und Trinken sind nicht nur Energie und Lebenserhalt spendende Rituale, sondern auch Lusterfahrung. Beides war stets ein beliebtes Motiv in der Kunstgeschichte, ob es das Genießen von Speisen und Getränken in der Genremalerei ist oder die arrangierten Lebensmittel in den niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts.
Vampirismus & Kuss
Der tödliche, das Leben aus dem Körper saugende Biss ist auch die Kerntat des Vampirs, bis heute ein Leitmotiv in Literatur, Film und Kunst. Die Tatmotive des Vampirs schwanken dabei zwischen Liebe und Blutrünstigkeit, zwischen Liebesbiss und Todeskuss.
Der Kuss hat seine eigene Kunst- und Kulturgeschichte geschrieben. Seine Urform ging vermutlich aus dem mütterlichen Vorkauen von Nahrung hervor, die von Mund zu Mund weitergegeben wurde. Erwähnt ist das Küssen bereits vor circa dreitausendfünfhundert Jahren in den indischen Veden, einer Sammlung religiöser Texte, welche die Grundlage des Hinduismus bildet, während sich in Pompeji als Beweis für die lange Bildgeschichte des Kusses in der Casa dei Casti Amanti eine Kussszene erhalten hat. Das Spektrum reicht vom religiösen, mythologischen, allegorischen und verräterischen Kuss (Judas) über den sozialistischen Bruderkuss, den Begrüßungskuss unter Freunden, den Handkuss oder innerfamiliäre Küsse bis hin zur populärsten Form, dem Kuss aus Liebe und Leidenschaft.
Schreien & Speien
Schreien und Speien sind Veräußerungsprozesse. Laute zu machen ist eine der elementarsten Funktionen der Mundhöhle, denn die Stimme ist ein essentieller Bestandteil unserer Identität. Unter den verschiedenen Lauten ist der Schrei der unmittelbarste, eine direkte Vertonung eines emotionalen Zustandes und der erste, den wir nach der Geburt artikulieren. Laute in jeglicher Form stehen im Widerspruch zum stillen Bild, sodass die Mimik als Artikulationsmittel nicht-sprachlicher Natur eine entscheidende Rolle spielt. Folglich hat der aufgerissene Mund als Indikator des Schreis eine lange Bildtradition. Seine Ursachen sind zahlreich – vom Angstschrei über den Schmerzensschrei, den Kampf- und Anstrengungsschrei, den Ekelschrei bis hin zum Freudenschrei.
Finden Sie unseren Direktor!
Wenn Sie richtig klicken, wird es grün.
Luft & Laute
Gott haucht dem Mensch den Odem in die Nase und von da an war er ein lebendiges Wesen (1. Mose 2,7). Das Ein- und Ausatmen ist die lebenswichtigste Aufgabe der Mundhöhle.
Bunte Blasen für Kinder: Die ersten Einsätze als Spielzeug
Seifenblasen sind wunderbar: Schillernd bunt werden sie von der Luft getragen und zerplatzen so schnell wie sie beim Pusten entstehen. Eine der frühesten künstlerischen Darstellungen von Seifenblasen als Kinderspielzeug findet sich in Pieter Bruegels Gemälde Die Kinderspiele von 1560, woraus sich schließen lässt, dass Seifenblasen bereits seit mindestens 500 Jahren von Kindern zum Spielen verwendet werden.
Die Massenproduktion von Seife begann im 19. Jahrhundert. Damit wurde auch das Herstellen der Seifenlauge für die Seifenblasen einfacher. Seit 1948 gibt es die industrielle Herstellung einer Lauge inkl. Blasring von einer Tübinger Firma. Das Produkt mit dem Markennamen Pustefix ist allerdings ein Zufallsprodukt. Der Chemiker Rolf Hein suchte eine neue Formel für ein Waschmittel. Bei einem der Experimente schäumte die Lauge so sehr, dass sie große Blasen bildete: Seifenblasen! Umgefüllt in kleine Flaschen, dazu eine Pustehilfe, ein Blasring aus einer zum Ring gebogenen feinen Federdrahtschlaufe mit Stiel – so wurde aus dem Waschmittel ein Kinderspielzeug.
Zahn der Zeit
Ein Leben lang nagt an uns der Zahn der Zeit. Zähne definieren unsere Lebensabschnitte vom ersten bis zum letzten Zahn. Der Schädel und seine Zähne sind das stärkste Symbol der Vergänglichkeit und Hauptmotiv zahlreicher Vanitas-Darstellungen – denn sie überleben uns.
Mit Rona Pondicks Installation Dirt Head entsteht 1997 eine zeitgenössische Entsprechung zu diesem Vanitas-Motiv, mit der die hier skizzierte Motivgeschichte des Oralen und die Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg schließen, die mit einer metaphorischen Reise ins Erd- und Körperinnere begannen. Ihre Little Bathers haben sich nun in vierhundert Erdgesichter verwandelt, die sich in dem monumentalen Erdhaufen, auf dem sie liegen, aufzulösen drohen. Evoziert die Installation vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte einerseits Holocaustbilder, entbehrt das breite Grinsen ihrer Erdgesichter jedoch auch nicht einer humorvollen Note, die sie unsterblich wirken lässt.